Propst Dr. Bergemann
Lisa Scheide

Barmherzigkeit

Propst Dr. Bergemann Gedanken zur Jahreslosung 2021.

Wer ist Ihnen näher: Der verlorene Sohn oder dessen älterer Bruder? Sind Sie eher ein draufgängerischer Mensch oder ein eher gewissenhafter? Womit kämen Sie leichter zurecht: Wenn ein Kind ganz eigenständige Wege geht und dabei scheitert? Oder wenn ein Kind immer versucht, alles richtig zu machen, und Ihnen trotzdem oder gerade deshalb Ungerechtigkeit vorwirft?

Ich gebe zu, das sind nicht so ganz einfache Fragen. Noch viel schwerer ist die Frage, ob wir Menschen uns vorstellen könnten, gleichermaßen gerecht zu sein. Zu beiden Kindern. Oder: Dass wir keinen der beiden Söhne aus dem Lukasevangelium vorziehen. Oder: Dass wir uns auf den Weg machen und dem 100. Verlorenen nachgehen, wenn doch alle 99 sicher angekommen sind. Gott wird so dargestellt. Mit diesem Nicht-Aufgeben wird Gottes ureigene Eigenschaft beschrieben: Barmherzigkeit.


Die Jahreslosung, die gleichsam Jahresüberschrift für 2021 sein soll, enthält dieses Wort: „Seid barmherzig, wie auch Euer Vater barmherzig ist.“ (Lukas 6,36).


Wir haben es im letzten Jahr erlebt in der Nähe und in der Ferne, was es heißen kann, in einer gnadenlosen Gesellschaft zu leben. Eine Gesellschaft, die keine Fehler zulässt und buchstäblich keine Luft zum Atmen schenkt, in der es sprichwörtlich hartherzig und nicht barmherzig zugeht. Barmherzigkeit richtet sich nicht nur an diejenigen, die mehr haben als andere. Barmherzig zu sein, ist eine Aufgabe für uns alle, für unser Miteinander und für den Umgang mit uns selbst.

Es mag uns immer schwerer fallen, die Wochen der Pandemie zu ertragen, die Maßnahmen anzunehmen und zu akzeptieren. Jeder Tag mehr im Lockdown scheint einer zu viel zu sein. Ein barmherziger Umgang mit dieser Situation bedeutet: Gnädig mit den Entscheidungsträgerinnen und -trägern umzugehen, mit den gefühlten und tatsächlichen Erwartungen an uns selbst, mit den Enttäuschungen. Barmherzigkeit gehört unbedingt zum Umgang mit den heranwachsenden Menschen um uns herum, ebenso mit den älteren und alten Menschen.

Wenn ich vergesse, wer ich einmal war und wer ich sein könnte, dann kann ich kaum barmherzig sein und verliere jeden Bezug zur Menschlichkeit. Und zuletzt hat Barmherzigkeit auch eine ganzheitliche, alle Kreatur betreffende Konnotation. Welches Leben habe ich geschenkt? Mit welchem Recht ist meines wertvoller als das der Tiere? Und wieso schade ich der Umwelt derartig, dass noch Generationen damit zu kämpfen haben werden? Auch hier hülfe ein barmherziger Umgang – mit meiner eigenen Unzulänglichkeit und der Erkenntnis, dass nicht nur perfekt ist, was menschlich ist und gerade so, wie ich bin.

Ein Jahr der Barmherzigkeit liegt vor uns, ein Jahr im Trainingslager also. Gebe Gott, dass wir am Ende ordentlich Muskelkater haben!


Bleiben Sie von Gott behütet!
Thomas Bergemann

Veröffentlicht am Mo 25.01.2021