Wunderbar bin ich gemacht

Miriam Pietzsch, Pastorin der Christus-Kirchengemeinde Kiebitzreihe

Der allmorgendliche Blick in den Spiegel: Die Haare verwuschelt, das Gesicht zerknautscht, der Kopf noch in den Wolken, zwischen schlafen und wach sein – wie schaust du dich an?

Da sind die Falten an den Augenwinkeln und um den Mund. Die Sommersprossen auf der Nase. Ein roter Pickel leuchtet mich an. Die Narbe am Kinn von dem Unfall vor Jahren.

Da ist Geschichte, Erlebnisse, Erfahrungen – all das zeichnet mein Gesicht. Und viel zu oft mäkele ich dann an mir herum: Oh je, wie siehst du müde aus. Irgendwie blass und krank. Alt bist du geworden. Kann ich das irgendwie überschminken? Kann ich nicht so wunderbar aussehen, wie die Menschen auf Instagram, wie der Kollege bei der Arbeit, wie Lisa aus der 8a?

Dieser kritische Blick. Er ruht nicht nur auf uns selbst, sondern gerne auch auf andere. Ganz besonders in einer Gesellschaft, in der der eigene Wert von seiner erbrachten Leistung abhängt.  Wir beäugen uns, vergleichen gerne. Wir können ganz schön unbarmherzig miteinander sein.

„Ich danke dir, dass ich wunderbar gemacht bin; wunderbar sind deine Werke; das erkennt meine Seele.“ Heißt es im 139. Psalm, der Monatslosung für August.

Das ist ein ganz anderer Blick auf mich. Gott hat mich gemacht, mich gewollt: mit Falten und Pickeln, mit Narben und Sommersprossen. Sein liebevoller Blick ruht auf mir. Und wenn ich mich diesem Blick öffne, schaffe ich es vielleicht, anders auf mich und die anderen zu blicken. Dann erzählen mir meine Falten lustige Geschichten, über die ich lachen muss. Die Sommersprossen erzählen von einem sonnigen Sommer, der Pickel von der leckeren Schokolade neulich, die Narbe am Kinn von Wagemut. Ich kann mich annehmen. Und morgens barmherzig und freundlich auf mein Spiegelbild blicken. Wie schaust du dich an?

Miriam Pietzsch, Pastorin der Christus-Kirchengemeinde Kiebitzreihe

 

 

Veröffentlicht am Fr 28.08.2020