Vergiss es nie!

Franziska May, Pastorin der Friedenskirchengemeinde

Wenn ich in den letzten Tagen die Zeitung aufschlug, musste ich vermehrt an meinen Vater denken. Er gehörte zur Generation der Kriegskinder. Am Ende des Zweiten Weltkrieges war er 11 Jahre alt.

Seine Geschichten aus dieser Zeit prägten meine Kindheit und Jugend und sind mir heute wie eh und je präsent. Er erzählte mir von seiner Angst vor den Bombenangriffen auf Hamburg, von der zerstörten Stadt, von den Trümmern, über die er gelaufen ist und in denen er gespielt hat. Und er berichtete mir von den Gräueltaten eines unmenschlichen Regimes, von der Verfolgung und Ermordung Andersdenkender und Andersglaubender, von all dem, was er als Kind mitbekommen hatte. Und er gemahnte mich daran, all diese Dinge niemals zu vergessen. Denn: Was vergessen wird, wiederholt sich. Und diese Geschichte darf sich nicht wiederholen.

Ich habe das Glück in einer Demokratie zu leben, die meine Grundrechte schützt: meine Menschenwürde, mein Recht auf Entfaltung, meiner Persönlichkeit, mein Recht auf Gleichheit, auf Religionsfreiheit, auf Meinungsfreiheit usw. Was für eine Errungenschaft der Gesellschaft, in der ich leben darf. Und dann lese ich ganz aktuell, dass Politiker mit dem Tode bedroht werden, wenn sie ihren Wahlkampf nicht einstellten. Diese Zeiten, dachte ich, lägen hinter uns. Ich muss ja nicht mit allem Einverstanden sein. Ich habe das Recht, mit politischen Positionen zu ringen, aber dann trete ich in einen Diskurs ein. Argumente sollten das Mittel der Wahl sein und nicht das Schüren von Angst. Das ist es doch, was unsere Demokratie ausmacht.

Es scheint, dass bereits in Vergessenheit gerät, was sich nicht wiederholen darf. Nur noch wenige Menschen sind da, die uns davon erzählen können, und vor dem Verblassen der dunklen Geschichte strahlt das Licht der Demokratie nicht mehr so hell.

Um mir vor Augen zu führen, was unsere Gesellschaft in ihrem Zusammenleben ausmacht, könnte ich das Grundgesetz aufschlagen und es lesen. Aber ich kann auch einfach einen Blick in die Bibel werfen. Was wichtig ist, ist dort in einem kleinen Satz geronnen. „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.“ (Mt 22,39) Damit ist alles gesagt. Niemand lebt für sich allein. Und meine Freiheit hat ihre Grenze dort, wo sie meinen Nächsten in seinen Grundrechten einschränkt. „Vergiss das nie“, mahnte schon mein Vater.

Veröffentlicht am Fr 25.10.2019