Möchte ich, dass Gott mich sieht?

Geeltje Bauer, Klimaschutzkoordinatorin im Kirchenkreis Rantzau-Münsterdorf

„Du bist ein Gott, der mich sieht“: Die aktuelle Jahreslosung klingt im ersten Moment fast wie ein Rückschritt. Oder?

Liebe Leserinnen und Leser, nach „Wer zu mir kommt, den werde ich nicht abweisen“ ist nun „Du bist ein Gott, der mich sieht“ die aktuelle Jahreslosung. Im ersten Moment klingt das fast wie ein Rückschritt. Immerhin setzt die erste Aussage die zweite eigentlich voraus, oder nicht? Mehr noch: Wenn man die dazugehörigen Bibeltexte nicht kennt, hat es fast etwas Bedrohliches.

Gott sieht, wie ich mal wieder ein ganzes Wochenende mit PC-Spielen verbringe, trotz Hochschulstudiums an der Steuererklärung verzweifle oder wie ich es auf geradezu beeindruckende Art und Weise schaffe, in so ziemlich jedes Fettnäpfchen zu treten, welches das Leben für mich bereithält.

Doch wenn Gott das alles sieht, kennt er dann nicht auch die Vorgeschichte, die jemanden zum Beispiel dazu bewegt, bei Kleinigkeiten aus der Haut zu fahren und für andere als unberechenbar zu gelten? Er kennt dann auch den Balanceakt, den so viele Menschen tagtäglich auf sich nehmen, um Kinder und Beruf unter einen Hut zu bringen und die trotzdem das Gefühl haben, beidem nicht gerecht werden zu können. Er sieht die Hilflosigkeit hinter der Wut und den Mut, der nötig ist, um sich den Ängsten zu stellen, die für andere unsichtbar bleiben. Er sieht die schlaflosen Nächte, in denen Menschen mit Entscheidungen kämpfen für die sie von anderen als kalt oder egoistisch eingestuft werden. Er sieht dann auch den Schmerz, der Menschen manchmal am Glauben zweifeln lässt und der es oft so schwer macht, zu vergeben.

Und so wird aus einem „Gott, der mich sieht“ schnell auch ein „Gott, der mich versteht“. Ein ziemlich tröstlicher Gedanke wie ich finde.

Geeltje Bauer, Klimaschutzkoordinatorin im Kirchenkreis Rantzau-Münsterdorf

Veröffentlicht am Do 05.01.2023