Jammern oder danken?

Pastor Raphael Steenbuck, Kirchengemeinde Barmstedt

Mal ehrlich: Wer hat sich jemals vor diesem Jahr Gedanken um Erdgas gemacht?

Ich erinnere mich nur daran, dass ich während eines Urlaubs mal verzweifelt nach einem Gashändler gesucht habe. Die Gasflasche auf unserem Boot war leer und Kombüse ein paar Tage kalt. Ich war dankbar als es wieder warmen Kaffee gab.

Zu Hause hingegen war es seit meiner Kindheit, also Jahrzehnte lang, immer selbstverständlich, dass Gas von Russlands Gasfeldern durch tausende Kilometer lange Rohre, die teilweise auf dem Meeresgrund verlegt sind, und über Pumpstationen und durch riesige Gaslagerstätten bis in unsere Heizungsräume strömte. Und ich hatte keine Ahnung davon, was für einen langen und komplizierten Weg das Gas hinter sich hat. Keine Ahnung was für ein technischer und logistischer Aufwand das ist. Ich wusste nur: Unsere Heizung läuft mit Gas. Ich kann warm duschen und im Winter muss ich nicht frieren. Der Rest war mir egal. Weil es so selbstverständlich war.

Jetzt ist es nicht mehr selbstverständlich. Jetzt schauen wir mit Besorgnis auf den kommenden Winter und uns wird klar, wie gut wir es bisher hatten.

Leider sind wir Menschen fast immer so: Erst wenn etwas fehlt, machen wir uns bewusst, was wir hatten. 

Dabei gibt es so viele Selbstverständlichkeiten, die gar nicht selbstverständlich sind: Elektrischer Strom ohne Blackouts seitdem ich denken kann, die moderne Telekomunikation, die mir fast grenzenlos und ständig Information, Handel oder Entertainment liefert. Gefüllte Supermarktregale. Für uns selbstverständlich seit Jahrzehnten. Die meisten Menschen auf unserer Erde können davon nur träumen. An der Gaskrise in Folge des Ukraine Krieges zeigt sich: Nichts ist selbstverständlich! Manchmal ändern sich die Dinge schneller und grundlegender als wir uns ausmalen können. 

Auch im privaten ist das häufig so. Wir nehmen vieles für selbstverständlich: Unsere Partner, unsere Familie, unsere Freunde, unsere Gesundheit. Sie sind ja immer da, seit Jahrzehnten. 

Aber nichts ist selbstverständlich. Als Pastor habe ich auch schon viele junge Menschen beerdigen müssen, teilweise mitten aus dem Leben gerissen. Oder Beziehungen und Familien zerbrechen sehen, wie aus dem Nichts. Und natürlich sind Trauer und Erschütterung dann groß. Wenn ich in unserer Kirche Taufgottesdienste mache, streue ich immer mal wieder Schokoladenbonbons im Mittelgang aus bevor die Tauffamilien kommen. Die Leute kommen in die Kirche, wundern sich vielleicht und stiegen darüber hinweg oder sie nehmen es gar nicht wahr. Meistens sind es die Kinder, die stehenbleiben, sich bücken und die Schätze vom Boden aufheben. 

Jesus hat mal gesagt: „Wenn ihr nicht werdet wie die Kinder so kommt ihr nicht ins Himmelreich!“ Ich verstehe diesen Satz Jesu immer besser. Kinder sind neugierig und interessiert. Sie saugen Informationen wie ein Schwamm auf. Sie sehen Dinge, die wir schon gar nicht mehr wahrnehmen. Für sie ist vieles Neu und damit eben alles andere als selbstverständlich. Und so freuen sie sich über jede neue Entdeckung, jede neue Fähigkeit, jedes neu erlernte Wort. 

Wussten Sie das Kinder ca 400 mal am Tag lachen? Erwachsene durchschnittlich nur 20 mal. Vielleicht schaffen wir es ja zumindest ein wenig, Jesus Wort Folge zu leisten: Nicht nur über Verlorenes jammern sondern den Segen und das Glück auf unserem Lebensweg in jedem Moment zu sehen und zu erkennen. Und wie die Kinder in meinen Taufgottesdiensten stehen zu bleiben, die leckeren Schockis auf dem Lebensweg aufzulesen, auszupacken und zu genießen. Ein Leben voller Überraschung, Chancen, Glück, Möglichkeiten, statt ein Leben voller Jammer und Unzufriedenheit. 

Ihr Pastor Raphael Steenbuck
Kirchengemeinde Barmstedt

Veröffentlicht am Fr 16.09.2022