Jahrestage

Aufbruch lag in der Luft und spiegelte sich in den Transparenten. „Rechtssicherheit ist die beste Staatssicherheit“ oder „Macht ist keine Dauer-Pacht“ und „Wer ewig schweigt, stirbt von innen“, aber auch „Stoppt DDR-Neonazis“. Die Demo wurde live im TV übertragen. Was ich damals sah und hörte, konnte ich kaum glauben: freie Rede ohne Zensur vor aller Ohren und Augen.
Und wo stehen wir jetzt – am 9. November 2019? Vor 30 Jahren öffnete die DDR ihre Grenzen – nur fünf Tage nach der großen Demo. Eine Diktatur war bezwungen. Aber am 9. November denke ich zuallererst immer an die Reichspogromnacht, an den 9.11.1938. Heute vor einem Monat, am 9. Oktober 2019, wurde die Synagoge in Halle an der Saale Ziel eines rechtsextremistischen Anschlags. Allein die Stabilität der Synagogentür verhinderte den Massenmord. Und doch tötete der Angreifer. Er erschoss außerhalb der Synagoge Jana L. und Kevin S. in blindem Hass.
1938 predigte der sozialistische Pfarrer Helmut Gollwitzer über das, was geschehen war in der Nacht vom 9. zum 10. November. Er forderte radikale Nächstenliebe, die sich nicht beschränkt auf die eigenen Freunde und die eigene Familie. Er forderte Nächstenliebe, die sich allein daraus begründet, dass da ein Mensch ist, der Hilfe braucht. Dein Nächster, so Gollwitzer, „kann nur das Eine aufweisen […] er hat nicht, was du hast. Du hast zwei Röcke, er hat keinen; du hast etwas zu essen, er hat nichts mehr; du hast Schutz, er ist schutzlos; du hast Ehre, ihm ist sie genommen; du hast Familie und Freundschaft, er ist vereinsamt; du hast noch etwas Geld, er hat keins mehr; du hast ein Dach überm Kopf, er ist obdachlos.“ Das ist der Auftrag, den ich höre am 9. November 2019  – als Mensch, als Christin, als Bürgerin im wiedervereinigten Deutschland, als Pastorin in Elmshorn, als ich selbst.